These 3: Zentrum-Peripherie-These

Probleme zur Deckung von Fachkräftebedarfen müssen vor dem Hintergrund regionaler Disparitäten (und Wertschöpfungssysteme) reflektiert werden, bei denen der demografische Wandel lediglich vermittelt wirkt.

 

Regionale Unterschiede bei der demografischen Entwicklung sind auch innerhalb der Bundesländer stark ausgeprägt: Auch in Bayern finden sich mit Oberfranken oder Niederbayern schrumpfende Regionen, während einige ostdeutsche Städte wie Jena oder Dresden deutliche Zuwächse verbuchen konnten. Folglich entwickelt sich auch das Erwerbspersonenpotenzial innerhalb der Bundesländer ungleich. Ausschlaggebend sind die Pull-Faktoren der Wanderungsbewegungen (Brücker et al. 2013), die vor allem ökonomischer Natur sind. Wirtschaftlich dynamische Ballungszentren (Rhein-Main-Gebiet, Metropolregion München etc.) ziehen zusätzliche Arbeitskräfte an; ländliche strukturschwache Regionen (Oberlausitz) oder Gebiete im Strukturwandel (Ruhrgebiet) schrumpfen dagegen tendenziell. Branchenspezifisch auftretende Fachkräfteengpässe sind demnach auch regional äußerst unterschiedlich ausgeprägt. Phänomene wie die Überalterung der Erwerbspersonen sind oftmals in ländlichen, strukturschwachen Regionen vorzufinden. Unser Argument ist, dass die sich in einigen Regionen nachteilig entwickelnde Beschäftigungsstruktur wesentlich durch die polarisierte Raum- und Wirtschaftsentwicklung selbst verursacht wurde und deshalb bei der Erklärung der Arbeitsmarktentwicklung stärker die Nachfrageseite und die ihr zu Grunde liegende Wertschöpfungsbasis betont werden müssen.

Auch in Thüringen ist die Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung seit 1990 auf regionaler Ebene sehr unterschiedlich verlaufen. Insgesamt verfügt der Freistaat über eine stabile industrielle Basis (BMWi 2014), die aber teilweise als verlängerte Werkbank des Westens fungiert und damit auf anhaltend niedrigen Löhnen aufbaut. Anders als in vielen der übrigen Bundesländer gibt es in Thüringen keine dominierende Metropole, vielmehr bildet die Thüringer Städtekette Gera – Jena – Weimar – Erfurt – Gotha – Eisenach ein „Siedlungsband“ von Ost nach West, das zur Dezentralisierung und Spezialisierung der wirtschaftlichen Entwicklung beiträgt (Dietrich et al. 2011). Beispielsweise ist die Optikindustrie dominierend in Jena (mit Ausläufern in den Ilm-Kreis), in Eisenach ist die Automobilindustrie vorherrschend und in Sonneberg, dem Saale-Orla-Kreis und in Gotha ist vor allem die Kunststoffindustrie anzutreffen.

Nach einer Phase der Abwanderung und Suburbanisierung in den 1990er Jahren stabilisieren sich um die Jahrtausendwende einige urban geprägte Cluster (Jena, Eisenach), während einige ländliche Regionen im Norden und Nordosten als auch Städte wie Gera und Suhl immer mehr in Strukturprobleme geraten und an Bevölkerung verlieren (Fuchs et al. 2011). Die Folge ist eine zunehmende Polarisierung innerhalb des Freistaates. Betriebe, die ihr Geschäftsmodell in der Wendezeit auf die Verfügbarkeit qualifizierter, billiger Fachkräfte (in schrumpfenden ländlichen Regionen) aufgebaut haben, stoßen bei der Rekrutierung geeigneter Arbeitskräfte nun an Grenzen. Die Regionen und mit ihnen die Betriebe, die sich dort angesiedelt haben, haben durch ihre Standortpolitik an Attraktivität für Erwerbspersonen eingebüßt, was die Rekrutierung von Beschäftigten erheblich erschwert. Gleichzeitig setzen die erneute Abwanderungswelle, die um die Jahrtausendwende beginnt und vor allem die urbanen Zentren in Thüringen und in den umliegenden neuen Bundesländer zum Ziel hat, sowie das Ausscheiden vieler älterer Beschäftigter die Betriebe zusätzlich unter Druck. Umgekehrt verzeichnen selbst attraktive Betriebe in den boomenden Regionen Thüringens Engpässe bei der Rekrutierung von spezialisierten und hochqualifizierten technischen Fachkräften und geraten dabei hin und wieder auch in Konkurrenz mit westdeutschen Betrieben, die den Beschäftigten oftmals bessere Arbeitsbedingungen, Entgelte und Aufstiegsoptionen bieten. Beide Ausprägungen sind indes nur vermittelt auf den demographischen Wandel zurückzuführen: Die Angebotslücken und die Wanderungsbewegungen als Faktoren des demografischen Wandels werden durch die wirtschaftliche Entwicklung selbst bedingt und nicht umgekehrt.

Auf der Ebene der theoretischen Reflektion implizieren diese Beobachtungen, dass der Arbeitsmarkt theoretisch anders gefasst werden muss, als in den konventionellen wirtschaftswissenschaftlichen und auch soziologischen Analysen. Denn es kann weder alleine mit Angebots- und Nachfragestrukturen, institutionellen Regulierungsformen, Segmentation oder Schließung argumentiert werden (vgl. zu den gängigen Arbeitsmarkttheorien: Sesselmeier/Blauermel 2013; Weingärtner et al. 2015). Vielmehr muss die Analyse auf Wertschöpfungsketten bzw. -systeme und deren regionale Vernetzung ausgeweitet werden, da diese strukturierend auf regionale Arbeitsmarktdynamiken einwirken. Hierzu könnten Theoriebausteine aus der Entwicklungssoziologie und der Wertschöpfungskettenforschung fruchtbar gemacht werden, indem das Zentrum-Peripherie-Gefälle innerhalb Deutschlands sowie auch innerhalb Thüringens in die Analyse von demografischen Dynamiken (wie Brain-Drain) und von Engpässen auf dem Arbeitsmarkt aufgenommen werden sollte (Bair 2010; Portes/Celaya 2013).