These 2: Fachkräfteparadiesthese

Das ausgeprägte (Über)Angebot an Arbeits- und Fachkräften in Thüringen nimmt durch den demografischen Wandel ab. Die Arbeitsmarktdynamik kehrt sich nun zugunsten der Beschäftigten um, wodurch das Ende des Fachkräfteparadieses für die Betriebe eingeläutet wird.

 

Die Auswirkungen des demografischen Wandels artikulieren sich äußerst ungleich. Einige westdeutsche Bundesländer wie Baden-Württemberg oder Bayern konnten zwischen 1991 und 2013 Bevölkerungszuwächse aufweisen (+8,9 Prozent und +9,2 Prozent), während gerade ostdeutsche Länder wie Sachsen-Anhalt, Sachsen oder Thüringen tief ins Minus sanken (-19,8 Prozent, -12,7 Prozent und -15 Prozent) (Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder 2014). In Thüringen und anderen ostdeutschen Bundesländern konnten Unternehmen lange von einem „Fachkräfteparadies“ zehren. Trotz massiver Abwanderungen bis 1992 waren in Folge der geburtenstarken Jahrgänge zwischen 1955 und 1980 (Hradil 2012) bis in die 2000er hinein qualifizierte Fachkräfte in einem Ausmaß vorhanden, das den Betrieben freie Wahl bei der Besetzung ihrer Stellen ließ. Dazu trug auch die massive Freisetzung von qualifizierten Arbeitnehmer/-innen im Zuge des Rationalisierungsschubs in der Industrie nach der Wiedervereinigung bei (Land 2010; Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development 2013). Für die in Thüringen ansässigen Unternehmen sicherte das niedrige Lohnniveau erhebliche Standortvorteile (Buss/Wittke 2004; Dietrich et al. 2011). Angesichts einer strukturell hohen Arbeitslosigkeit, die bis Mitte der 2000er Jahre wie ein Damoklesschwert über den Beschäftigten hing, entwickelten große Teile der Belegschaften aus Angst um ihre Arbeitsplätze eine ausgeprägte Leidensfähigkeit und ein starkes Arbeitsethos. Diese „ostdeutschen Arbeitsspartaner“ (Behr 2000) standen einer überbetrieblichen Interessenvertretung häufig ablehnend gegenüber. Selbst wenn funktionsfähige Betriebsratsstrukturen existierten, kapselten diese sich in der Regel von den Gewerkschaften ab (Artus 2003: 250; Hinke 2008). Die betrieblichen „Notgemeinschaften“ (Mense-Petermann 1996: 67) zwischen Geschäftsführungen und Belegschaften – basierend auf weitgehender Beschäftigungssicherheit im Austausch gegen Lohnverzicht und Inkaufnahme schwerer Arbeitsbedingungen – sowie staatliche Förderung und günstige Grundstückspreise ebneten den Weg für viele Unternehmen wirtschaftlich in Thüringen Fuß zu fassen und beständig zu wachsen.

Diese paradiesischen Zustände sorgten dafür, dass das Gros der Thüringer Betriebe Schritte für eine nachhaltige Versorgung mit qualifizierten Arbeitskräften unterließ. So wurden unmittelbar nach der Wiedervereinigung vor allem junge Beschäftigte entlassen (Denisow et al. 1995), von denen wiederum viele in die alten Bundesländer abwanderten. Um den Arbeitsmarkt zu entlasten, wurden zudem Hundertausende älterer Arbeitnehmer/-innen über Vorruhestandsregelungen und Altersruhegeld dem Arbeitsmarkt entzogen (Sackmann et al. 2000). Neueinstellungen wurden nicht oder nur begrenzt vorgenommen und das Thema Ausbildung rückte immer weiter in den Hintergrund – auch in Betrieben, die zuvor eine starke Ausbildungstradition gepflegt hatten (Behr 2000: 34f.). Die für die Unternehmen vorteilhafte Arbeitsmarktsituation kehrte sich jedoch ab Mitte der 2000er Jahre nach und nach um. Durch die schleichende Überalterung der Belegschaften in Thüringen und den Verlust einer ganzen Generation der damals 20- bis 35-jährigen sehen sich Unternehmen inzwischen immer häufiger mit einer gegenläufigen Entwicklung konfrontiert. Nun sind es, insbesondere die qualifizierten, Arbeitnehmer/-innen, welche zunehmend eine ,Bestenauslese’ bei der Wahl des künftigen Arbeitgebers vornehmen können.

Ein Indikator für das „Ende der ostdeutschen Bescheidenheit“ (Goes et al. 2015: 102) ist – neben einer wachsenden Offenheit der Belegschaften gegenüber Gewerkschaften – die angebotsseitige Personalfluktuation. War es für viele Beschäftigte in der Vergangenheit keine Option, den Arbeitsplatz freiwillig zu verlassen, weil die Arbeitsmarktrisiken als zu hoch eingeschätzt wurden, so kündigen inzwischen immer mehr Arbeitnehmer/-innen von sich aus den Arbeitsvertrag (Eigenkündigung). Wurden im Jahr 2005 lediglich 13 Prozent der Arbeitsverträge von Beschäftigtenseite gekündigt, waren es sieben Jahre später bereits 31 Prozent. Umgekehrt wurden 2005 noch 35 Prozent der Arbeitsverträge durch die Arbeitgeber aufgekündigt, während es 2013 nur noch 24 Prozent waren (IAB-Betriebspanel 2014). Auch wird die Erleichterung der Arbeitsmarktsituation für Beschäftigte deutlich an der subjektiven Wahrnehmung des Risikos, den Arbeitsplatz zu verlieren. So schätzten im Jahr 2012 65 Prozent der Befragten ihr Risiko eines Arbeitsplatzverlustes als sehr gering ein; 27 Prozent sahen überhaupt keine Gefahr, den Arbeitsplatz zu verlieren (Bundesinstitut für Berufsbildung/Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2012).

Mit der objektiven Verbesserung der Arbeitsmarktsituation für die Beschäftigten dürfte auch der Trend zu einem sukzessiven Anstieg der Löhne in Zusammenhang stehen. Die Bruttolöhne nahmen in Thüringen zwischen 2005 und 2014 Thüringen um 21 Prozent zu, während die Zunahme im Westen Deutschlands im selben Zeitraum lediglich 6,4 Prozent betrug (IAB-Betriebspanel 2014). Dennoch liegen die Durchschnittslöhne vieler Branchen in Thüringen weiterhin um fast 30 Prozent unter dem westdeutschen Durchschnitt. Diese Entwicklung kann als Anpassung an die zunehmende Engpasssituationen auf dem Arbeitsmarkt interpretiert werden. Nehmen die derzeit regional- und branchenspezifisch auftretenden Engpässe und dementsprechend auch die Löhne weiter zu, droht das Ende des Fachkräfteparadieses. Unternehmen müssen sich demnach künftig auf veränderte Bedingungen einstellen beziehungsweise sind bereits jetzt schon davon betroffen. Dies äußert sich in längeren Vakanzzeiten, einer sinkenden Anzahl von qualifizierten Bewerbungen und höheren Ansprüchen der Bewerber/-innen an den Arbeitgeber und an die Ausgestaltung der Arbeit. Die Folge ist, dass Unternehmen dazu übergehen, ihre Personalpolitik anzupassen und attraktivere Arbeitsbedingungen zu schaffen, um qualifizierte Beschäftigte an das Unternehmen zu binden und ihre Entwicklung gezielt zu fördern. Dabei spielen die subjektiven Ansprüche an Arbeit eine zentrale Rolle.