These 1: Differenzierungsthese
Eine direkte Ableitung eines Fachkräftemangels aus dem Großtrend „demografischer Wandel“ ist verkürzt. Es gibt verschiedene Anpassungsfaktoren und Handlungsoptionen, die der Entwicklung von verstetigten Engpässen entgegenwirken.
Den meisten Studien, die einen Fachkräftemangel voraussagen, teilen ein spezifisches Argumentationsmuster: Sie leiten vorschnell aus einem verringerten Erwerbspersonenpotenzial Fachkräfteengpässe oder -mängel ab. So basiert etwa die medienwirksame Projektion von Prognos aus dem Jahr 2008 auf einer Fortschreibung des Status Quo um weitere zwei Jahrzehnte (Prognos 2011). Dabei wird angenommen, dass die Arbeitskräftenachfrage konstant bleiben wird und sich unabhängig von der Angebotsseite entwickelt (Prognos 2008; zsh 2013). Das führt zu Verzerrungen, ist doch die Nachfrage nach Arbeitskräften deutlich volatiler als das Angebot. Die Projektionen von Prognos schließen zudem aus einem möglichen Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials unmittelbar auf eine Mangelsituation, also auf dauerhaft und in großer Zahl fehlende Fachkräfte. Ein Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials ist jedoch nicht gleichzusetzen mit einer Fachkräftelücke. Vielmehr, so argumentieren die Analyst/-innen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, ist mit einer Anpassung der Unternehmen an die neue Situation zu rechnen, was einen Rückgang der Nachfrage nach Arbeits- und Fachkräften nach sich ziehen wird (Brücker et al. 2013: 14). Das bedeutet, dass ein Anstieg der Löhne und eine Anpassung des Kapitalstocks zu einem Rückgang der Arbeitsnachfrage führen können.
Eine vom Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Technologie (TMWAT) in Auftrag gegebene Studie, die für Thüringen einen Arbeitskräftebedarf von 280.000 Personen im Jahr 2025 ermittelt hat, berechnet den Ersatzbedarf an Arbeitskräften durch eine modellierte Hochrechnung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die künftig durch die Rente ausscheiden. Zudem wurde der mögliche Erweiterungsbedarf auf Basis der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung projiziert (zsh 2013: 6). Die Studie, durchgeführt vom Zentrum für Sozialforschung in Halle, ist in vielfacher Hinsicht als problematisch zu bewerten. Ähnlich den Prognos-Projektionen werden auch hier einige methodische Fehlannahmen getroffen, die kritisch zu betrachten sind. Zunächst wird die Annahme eines sich über Jahre hinweg kumulierenden Arbeitskräftebedarfs von 280.000 Menschen nicht mit einer Vergleichsgröße ins Verhältnis gesetzt. Dies stellt die gesamte Aussagekraft der Studie grundsätzlich in Frage, da eine Referenzgröße, für die sich hier das Erwerbspersonenpotenzial besonders eignen würde, für die Prognosen und Projektionen fehlt. Zudem ergibt sich aus den Renteneintritten der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nicht zwangsläufig ein äquivalenter Ersatzbedarf an Arbeitskräften. Außerdem ist die Modellierung allein auf Basis der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten selbst problembehaftet: Auch wenn diese Erwerbsgruppe in Thüringen die deutliche Mehrheit bildet (jedoch mit einem sinkenden Anteil an der Gesamtbeschäftigung, vgl. Goes et al. 2015: 33), werden die übrigen Erwerbstätigen bei der Bestimmung von Ersatzbedarfen durch die Wissenschaftler/-innen des zsh nicht mit einbezogen. Vor dem Hintergrund einer stetigen Abnahme sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung wäre dies jedoch eine wichtige Voraussetzung, um umfassende Aussagen über die Entwicklung des Arbeitsmarkts vornehmen zu können. Zuletzt scheint die Nachfrageseite in dieser Thüringenstudie wie in der Projektion von Prognos gleichsam als exogene Variable angenommen zu werden. Ihre künftige Entwicklung ist jedoch abhängig von kaum vorhersagbaren Schwankungen der globalen Konjunktur und wird durch weitere Faktoren wie den sektoralen Strukturwandel, der Zunahme kapitalintensiver Technologien, Rationalisierungsprozesse etc. beeinflusst (Brücker et al. 2013). Aktuell ist z.B. völlig unklar, im welchem Umfang menschliche Arbeitskraft durch die Digitalisierung von Produktion und Dienstleistungen ersetzt werden kann und wird.
Insgesamt sind Hochrechnungen und Projektionen der Angebots- und der Nachfrageseite über einen derart langen Zeitraum nicht besonders treffsicher. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass sich Fachkräftebedarfe bei anhaltend positiver wirtschaftlicher Entwicklung immer weiter kumulieren, ohne dass die Unternehmen mittelfristig auf solche Entwicklungen reagieren. Tatsächliche Mangelsituationen, so Arbeitsmarktexperte Gerhard Bosch, wären beispielsweise an einem „sorgsameren Umgang“ mit den Erwerbsfähigen (2011: 584) oder an Trends zur Entprekarisierung von Arbeit erkennbar. Unternehmen würden in solchen Fällen neben steigenden Löhnen beispielsweise auch in Aus- und Weiterbildung oder betriebliche Maßnahmen wie etwa ein zukunftsfähiges Kompetenzmanagement investieren. Bedrohen steigende Löhne und weitere angebotsbezogene Maßnahmen aus Sicht der Nachfrageseite jedoch die Profitabilität von Standorten, sind alternative Maßnahmen denkbar, die wiederum einen Rückgang der Arbeitsnachfrage zur Folge haben. Neben Arbeitsverdichtung und dem Ersetzen menschlicher Arbeitskraft zählen darunter auch Strategien zur Auslagerung und dem Outsourcing von Unternehmenseinheiten. Die Maßnahmen können in Anlehnung an den Begriff des „spatial fix“ des Wirtschaftsgeographen David Harvey (1982) als „demographic fixes“ bezeichnet werden. Sie dienen im doppelten Sinne von „to fix“ dazu, Investitionen neu zu „fixieren“ und vorhandene „Probleme“ zu reparieren. Die Unternehmen können mit solchen Strategien auf den demografischen Wandel reagieren, um die von diesem bedingten Verwertungsprobleme zu umgehen. Greift keine dieser Strategien oder sind für derartige Anpassungsleistungen nicht ausreichend finanzielle Ressourcen vorhanden, so sind im Extremfall Betriebsschließungen die Folge.
Letztlich handelt es sich um ein komplexes Zusammenspiel von Arbeitskräftebedarf und -nachfrage, begleitet von strukturellen Einflüssen und Brüchen. So kann etwa die Flüchtlingszuwanderung, wie wir sie im Augenblick erleben, zu gänzlich anderen Ergebnissen bei der Einschätzung der Bevölkerungs- oder Arbeitsmarktentwicklung in den nächsten Jahren führen. Generalisierende Hochrechnungen und Projektionen über lange Zeiträume werden den beispielhaft dargestellten Zusammenhängen daher nicht gerecht. Sie fallen selbst hinter neoklassische Arbeitsmarktmodelle zurück, nach denen sich in einer Marktwirtschaft Knappheitsverhältnisse in steigenden Preisen ausdrücken. Mangelsituationen auf dem Arbeitsmarkt müssten sich demnach grundsätzlich in einem Anstieg der Löhne widerspiegeln, wodurch wiederum die Nachfrage nach Arbeits- und Fachkräften abnähme. Auch wenn das Grundproblem einer Veränderung auf dem Arbeitsmarkt nicht geleugnet werden sollte, ist eine Überdramatisierung ebenfalls wenig hilfreich. Regionale und branchenspezifische Analysen – wie sie etwa bereits das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung durchführt – sind dagegen vielversprechender.